#7: WAS IST KINO? DAS WESEN DES KINOS.

Symptomatik, Berührung, Wert, Kompression, Haltung, Höhepunkte.

Stacks Image 520
Foto ©2014 Janosch Orlowsky
(24.07.2014) Kino ist Berührung, manchmal auch Wissen. Dieser kürzere Artikel fasst die bisherigen Erkenntnisse der Artikelreihe zusammen. Viele der Regeln lassen sich auf andere Unterhaltungs- und manche Kunst- und Kommunikationsformen anwenden.
SYMPTOMATIK UND UNSICHTBARES BAND
Ein Film erzählt sich ausschließlich über Symptomatik.
Die Symptomatik der menschlichen Seele.

Blicke, Handlungen, Gesten, Bewegungen - Aktion - Reaktion ...

Eine Kamera, im Gegensatz zur allwissenden Erzählperspektive eines Romanautors, sieht nur Oberflächen.
Das Gezeigte erzählt vom Innenleben einer Figur. 

Insofern muss der Filmemacher die Seele seiner Protagonisten absolut kennen - oder spätestens, wenn die Kamera läuft, gemeinsam mit den Schauspielern entdecken.

Eine Filmkamera ist Beobachter von seelischer Symptomatik, die Art der Fotografie wiederum setzt den Seelenzustand und die Konflikte einer Figur in ein Verhältnis zu seiner Welt.

Jedes dieser gezeigten Verhältnisse wiederum offenbart ein Spannungsfeld und somit Konflikt. 

Menschen befinden sich im ständigen Konflikt mit ihrer Umwelt - bewusst oder unbewusst.
Im Konflikt mit Grenzen, Pflichten und Regeln, anderen Menschen oder anderen Parteien - selbst im vermeintlichen Zustand der Harmonie.
Aufgund dieser Konflikte, die uns allein durch ihre Existenz begrenzen, streben wir in allen Wünschen und Sehnsüchten nach Entgrenzung, nach Transzendenz. 
Alle unsere Emotionen enstehen im Spannungsfeld zwischen Angst und unserem Streben nach Entgrenzung.

Gute Fotografie zeigt diese Spannungsfelder und schafft dadurch Wahrhaftigkeit.

Die Aufgabe des Filmemachers besteht darin, Konflikt sichtbar zu machen. 

In der Dramaturgie, in der handwerklichen Umsetzung.

Ohne Konflikt keine Bedeutung und kein Wert, keine Berührung.
REZIPIENTENBERÜHRUNG / STORY
Der Zuschauer dekodiert die seelische Symptomatik des Kinos, des Gezeigten, der Figuren anhand seines eigenen, persönlichen Erfahrungshorizontes und seiner Empfindungen und Gefühle.

Eine hohe Grundaufladung kann bereits vor Filmbeginn oder zu Anfang des Filmes erzielt werden.
Köder, Erwartung, Neugier.
Die Grundaufladung allein schafft zunächst Neugier und Interesse, dann Bedeutung aber noch keinen Wert.

Das Initialinteresse lässt sich durch das Spiel mit dem Unbekannten aufrecht erhalten.
Im sicheren Raum des Kinos sind die Möglichkeiten (Plot) praktisch unbegrenzt.

Im Kontext des Gezeigten, der Handlungen, im Laufe der Erzählzeit, enstehen zunächst Bedeutungen, Aufladungen - und erst dann schließlich Berührung und Wert.

Je globaler (allgemeingültiger) ein Trigger, desto breiter das Publikum.

Die Allgemeingültigkeit lässt sich mithilfe des Projektkerns definieren.

Das ist die Metaphysik des Kinos, der dramatischen Erzählung, der Kunst, des kreativen Schaffens, der Verführung, der Kommunikation.

Das Wissen um die Gefühle des Rezipienten und deren - mehr oder minder - subtile Steuerung.

Letzteres ist, wie alles im Leben, dual und muss verantwortungsvoll eingesetzt werden.

WERT
In herausragenden Filmen wird der Kinozuschauer sich durch die Bedeutungen und schließlich den erlebten Wert (im Laufe einer Geschichte) einer Wahrheit über seine eigene Existenz bewusst.

Nicht durch Erklärung, sondern durch emotionales Erleben - Erfahren durch Berührung. 

Die Berührung führt im besten Fall schließlich zu Katharsis und Läuterung.

Dies ist das tiefstmögliche, befriedigendste Erlebnis, das ein Zuschauer haben kann und welches jegliche Form von Eskapismus, Kitsch, Lehrfilm oder Propaganda um Längen schlägt.
BERÜHRUNG UND WAHRHAFTIGKEIT
Berührung im Drama ohne Wahrhaftigkeit ist Kitsch und somit Eskapismus.

Oder, schlimmer: Propaganda. 
Propaganda kann sehr lustvoll sein, ist jedoch das Gegenteil von Wahrhaftigkeit und versperrt uns somit den Weg zu Bewusstsein oder Erkenntnis, einem tiefer liegenderen, nachhaltigeren, intensiveren Sein. 
Werbung funktioniert beispielsweise nach diesem Prinzip.


Wahrhaftigkeit oder auch reine Information ohne Berührung bleibt abstrakt und verweigert dem Zuschauer genauso Erkenntnis, weil das Vermittelte nicht erlebbar gemacht wird.

Viele Dokumentationen und Reportagen, auch manche "intellektuelle" Filme verkennen diese Funktionsweise und informieren nur den Verstand. 
Menschen verstehen und lernen jedoch durch emotionales Erleben.
Zusammenhänge und Fakten können rational vermittelt werden, aber erst durch das emotionale Erleben werden sie nachvollziehbar und verinnerlicht oder offenbaren ihre wahre Bedeutung.

Die seelische Latenz oder auch Trägheit des Herzens ist leider ein Prinzip unseres Daseins.

Der Film als dramatische Erzählform minimiert diese Verzögerung auf seine Erzählzeit.

Abhängig vom Grad unseres tatsächlichen Bewusstseins im direkten Zusammenhang mit unseren verinnerlichten Lebenserfahrungen, unserer menschlichen Reife, verkürzt sich diese Latenz auch im echten Leben manchmal dramatisch.
KOMPRESSIONSRAUM
Der Film selber und die Figuren sind Projektionsflächen für das Leben des Zuschauers in zeitlich stark komprimierten Zusammenhängen.

Die zeitliche Komprimierung und Zuspitzung der Ereignisse und Prüfungen einer Figur, das Drama, in einem geschützten Raum, dem Kinosaal, ermöglicht intensive Emotionen. 

Nur in einem geschützten Raum lassen viele Menschen sich potentiell fallen und öffnen sich vollständig ihren Gefühlen, weil Menschen stets nach Sicherheit streben.

Dies gilt für zwischenmenschliche Beziehungen, die alle auf Vertrauen basieren, aber auch für geschützte Räume wie Kino- oder Theatersäle, Unterhaltungsformen im Fernsehen oder auf anderen Displays, auch für Bücher und etliche andere Kommunikationsformen mit einer erzählerischen Zeitkomponente.

Wahrhaftigkeit wird durch Berührung erlebbar gemacht. 

Wahrhaftigkeit ist ein Lebensumstand jenseits von persönlichen Haltungen, sie ist ein Fakt unserer Zeit, unserer Welt, unserer Existenz.

Kino, gutes Entertainment, Kunst und andere Erzähl- und Kommunikationsformen, selbst ein guter Witz, entfalten nur über Wahrhaftigkeit - eine tiefe Wahrheit über unsere Existenz - ihre volle Wirkung, das gesamte Potential.

Tiefe und wahrhaftige Berührung macht jede Form von Kommunikation erst nachhaltig erfolgreich.
HALTUNG
Es gibt drei Arten von Enden:

- Positiv (Entgrenzung, Läuterung)
- Negativ (Angst, Sicherheitsstreben, Übermacht des Systems, der Systemik)
- Neutral (offen oder Ambivalenz)

Mit dem Ausgang / Ende eines Werkes positioniert sich der Filmmemacher / Künstler / Kreative zu der von ihm verhandelten Wahrhaftigkeit des Lebens / der Welt. 

Das ist Haltung und sollte klar von Propaganda oder Didaktizismus unterschieden werden. 

Eine humanistische Haltung ist immer stärker, berührender und nachhaltiger als eine politische oder ideologische. Weil sie unserem Streben nach Entgrenzung, unserem Streben nach innerer und äußerer Einheit entspricht. Sie ist global menschlich.

Bereits im Wort Humanismus stecken die Idee sowohl des Individuums, als auch der Existenz seiner Mitmenschen.
HÖHEPUNKTE UND ENDEN
Eine tiefe Katharsis und ein absolut befriedigendes Unterhaltungserlebnis ist nur mit einem positiven Ende im (dramaturgischen) emotionalen Höhepunkt erreichbar. 

- Ein solches Ende gibt dem Rezipienten eine mögliche Antwort. 
- Ein solches Ende bejaht das Leben.
- Ein solches Ende ist niemals ohne Opfer und immense Herausforderungen zu erreichen. 

Drama ist komprimiertes Leben. 

Dramaturgie ist die umfassendste Wissenschaft des menschlichen Daseins. 
SINN
Gilt immer:
Minus mal Minus ergibt Plus.

Gilt meistens, die Regel kann jedoch überwunden werden*:
Plus mal Minus ergibt Minus.

Gilt immer:
Plus mal Plus ergibt immer Plus - bis das Gesetz der abnehmenden Wiederkehr greift.


*Abhängig von der Reife und inneren Gelassenheit der Schöpfer und der Rezipienten.




Was ist Kino? © 2014 Janosch Orlowsky. Nachdruck und / oder Verbreitung nur mit schriftlicher Genehmigung.
APPENDIX 1: LA PETITE MORT
Stellen Sie sich einen Liebesakt vor.


1 - positives Ende

Wenn Sie sich körperlich und seelisch komplett geöffnet haben und nach der körperlichen Befriedigung erfüllt fühlen, geborgen - und tiefes Glück und Verbindung empfinden, weil Sie mit einem vielleicht geliebten, vertrauten Menschen geschlafen haben, ist dies mit einem positiven Filmende vergleichbar.

Das Opfer, das Sie in diesem Fall erbracht haben, um diesen transzendenten Moment zu erreichen, ist eigentlich ein süßes - absolute Hingabe und Aufgabe aller inneren und äußeren Widerstände. 
Liebe ist die Aufgabe aller inneren und äußeren Widerstände, Bedingungslosigkeit.
Diese Selbstüberwindung wird jedoch oftmals als Opfer empfunden, weil viele Menschen nicht immer gegenwärtig sein können und der Verstand oder auch unser Ego uns in solchen Fällen kontrolliert. 


2 - negatives Ende

Fühlen Sie sich leer, haben den Höhepunkt vielleicht nur durch Konzentration und enorme Willenskraft oder Projektionen erreicht und / oder denken gleich schon an die Zigarette danach oder an andere, weitere Entgrenzungserlebnisse - oder noch schlimmer - an gestern oder morgen oder verschiedenste rationale Dinge - ist dies wie ein negatives Filmende. 

Auch negative Filmenden offenbaren sich in der Regel in (dramatisch) emotionalen Höhepunkten. 
Das Opfer - die absolute Hingabe und Gegenwärtigkeit - wurde nicht erbracht. 
Das allumfassende, kathartische Kinoerlebnis wird dem Zuschauer verweigert. 

Die Bedeutung einer erzählerischen Katharsis geht weit über ein simples Happy Ending in einem Liebesakt oder einem Film hinaus.


3 - neutrales / offenes / ambivalentes Ende

Können Sie den Höhepunkt nicht erreichen, werden Sie von inneren, vielleicht äußeren Widerständen abgehalten?
Nicht schön.

Das existentiell ambivalente dramatische Ende, manchmal auch offene Ende, ist zumeist unbefriedigend für den Zuschauer, weil es etwas Wesentliches verweigert. 
Nur sehr selten führt es im Kino zu einer Berührung des Rezipienten.
Das Versprechen, eine Wahrheit über das Leben in einer Story komprimiert durch Berührung erzählt zu bekommen, wird nicht eingelöst, nicht selten ist der Zuschauer bei offenen oder selbst bei ambivalenten Enden enttäuscht. 
Das Verhandeln eines Konfliktes, von Ambivalenzen, wird nicht innerhalb des Filmes / Werkes zu Ende gebracht.

Der Maßstab ist hier das ultimative Erleben, welches andere Filme bieten. 


Der Vergleich zwischen Dramaturgie und unserer Sexualität ist so treffend, weil Drama Lebensumstände komprimiert und Sexualität ebenso in einer kurzen - oder etwas längeren - "Erzählzeit" vielleicht nicht alles, aber viel Wahrhaftiges über das Wesen eines Menschen, eine Existenz, uns selber preisgibt. 

Freud hatte vielleicht nicht in allen Punkten recht, aber in einigen. 




LA PETITE MORT. © 2014 Janosch Orlowsky. Nachdruck und / oder Verbreitung nur mit schriftlicher Genehmigung.