#2: LEBEN UND DRAMATURGIE (2)

VON MARIENBAD BIS FRANZ KAFKA

Stacks Image 91
Foto © 2011 JO
VON MARIENBAD BIS FRANZ KAFKA
L'Année dernière à Marienbad / Letztes Jahr in Martienbad (1961) von Alain Resnais.

Der scheinbar kryptische Non-Plot-Film kann nur „gelesen“ werden, wenn man das Prinzip von Angst und Entgrenzung verinnerlicht hat.
Tatsächlich weist Marienbad einen extrem archetypischen, wenngleich minimalen Plot auf.

Marienbad zeigt das in Routine und Angst gefrorene Leben einer namenlosen Frau, die von einem namenlosen Mann umworben wird.

Immer wieder treffen sie in exquisiten Hotels (Marienbad, Frederiksbad) aufeinander; in teils poetischen, teils eindringlichen Voiceovers beschwört der Mann die Anziehung zwischen den beiden, die Frau verbalisiert immer wieder ihre Angst, ebenfalls durch ihre eindringliche Off-Screen Stimme.

Der Love Interest des namenlosen Mannes, die namenlose Frau, hat bereits vor dem Nächstliegenden Angst, so tief ist sie in ihrem System gefangen; ihr Gefängnis besteht aus purer Angst vor dem Leben.

Die Anziehungskraft (Attraction), die Sehnsucht nach Entgrenzung ist da, aber ihre Angst ist größer als diese Kraft.

Vielleicht ist Alain Resnais Meisterwerk der Film, der am Deutlichsten das Prinzip des menschlichen Wunsches nach Entgrenzung zeigt, weil es in den gesamten 90 Minuten auf Plotebene und im Subtext nur darum geht:

Menschen die in einer wohlhabenden, sinnentleerten Welt voller Konventionen selber teilweise wortwörtlich zu Tableaus gefroren sind, wie die barocke, Jahrhunderte alte Hotel-Schlosskulisse, in der sie sich wie Geister bewegen. Eigentlich haben sie schon längst das Leben hinter sich gelassen.

Dazu poetische, sehnsüchtige Voiceover, die die Schwere des Kosmos in jedem Detail beschreiben - endlose Gänge, Repetition, Rituale der Manifestation der Angst und der Leere.

Das Schweigen, die Nichtkommunikation, ist in dieser monotonen Routine ritualisiertes Einverständnis der Menschen mit ihrem System aus Konformität, Regeln und Leere (Min 39).

Das ständige Vermeiden des Entgrenzungsaktes der namenlosen Protagonistin geht soweit, dass sie sich mit Händen und Füßen gegen einen Kuss wehrt, gegen die Liebe zu ihrem namenlosen Verehrer, gegen ihre Sexualität, ihre Wünsche, Sehnsüchte, sogar gegen ihre Erinnerung.

Dieses Phänomen lässt sich im realen Leben immer wieder beobachten.

Natürlich gibt es immer wieder Enttäuschungen oder Verletzungen, aber viel häufiger spielen bewusste und unbewusste Konventionen, Projektionen und limitierende Gedanken die viel gewichtigere Rolle.

Daraus manifestiert sich dann eine systemische Angst vor der Entgrenzung; in Letztes Jahr in Marienbad geht es ausschließlich darum.

Marienbad wirkt wie ein in Schwarzweiß gegossener, morbider Traum, die Farblosigkeit des Filmmaterials betont zusätzlich die Starre und das Gewicht der Systemik, in der die namenlose Frau lebt.

Die anamorphen, schwerfälligen Cinemascope-Optiken (zum Teil mit erheblichen Randverzerrungen bei kurzen Brennweiten) unterstreichen dieses Gefühl zusätzlich.
Die Fotografie des Filmes ist exquisit - fließende elegante Kamerafahrten und grafische Tableaus in opulenten, barocken Schloss- und Parkumgebungen.

Es gibt kaum Dialoge im On, jegliche zeitliche Kontinuität ist aufgehoben. „Die Zeit ist nicht wichtig“ lässt der Mann sogar verlauten (1:01).

Die Aufhebung der Zeit kulminiert in dem dramaturgischen Hauptziel, am Ende des Werkes einen einzigen Moment der Gegenwärtigkeit, der Jetztzeit zu erzielen, wo sich die Möglichkeit der Überwindung des Angstsystems als gewaltige Kluft auftut.
(Ein vergleichbar intensiver Jetztzeit-Filmmoment ist in Chris Markes "La Jetée" zu bewundern - ein Werk das komplett aus Fotos montiert ist und einen poetischen, zauberhaften Moment bietet, als die Protagonistin im einzigen Bewegtbild des Filmes ihre Augen aufschlägt.)

Die Namenlose in Marienbad ist in ihrer alltäglichen Routine gefangen, kontrolliert von einem Mann, dem Spieler, gegen den der männliche Erzähler immer wieder in einem monotonen Nim-Spiel antritt (Karten, Streichhölzer oder andere Objekte, die in einem bestimmten Muster auf den Tisch gelegt werden - wer das letzte Objekt behält, verliert).
Trotz seiner Bemühungen verliert der namenlose männliche Erzähler immer wieder gegen den Spieler, der eine klar kafkaeske "Türsteher"-Aufladung hat.

In der Türsteherparabel Vor dem Gesetz von Franz Kafka geht es genau wie in Marienbad um Angst und Entgrenzung. Das Erstarren vor einer Möglichkeit, vor einer offenen Tür, aus Furcht - was der Hauptkonflikt unseres Lebens und Motor jeglicher Dramaturgie ist.

In beiden Fällen liegt der Erzählkern offen, da er sowohl im Subtext als auch im tatsächlichen Plot klar verhandelt wird.

Sowohl Marienbad, als auch die Türsteherparabel, sind Geschichtsarchetypen, weil sie von unserem elementaren Lebensprinzip handeln.

Archetypen in Filmen und anderen Werken sind meinem Verständnis nach nichts weiter als vom Leben abgeschaute, allgemeingültige und für die Dramaturgie komprimierte Prinzipien, die sich selbst im Laufe der menschlichen und technischen Evolution nicht verändern.

Menschliche Sehnsüchte, Wünsche und Bedürfnisse bleiben immer gleich, wenngleich im Laufe der technischen und später der digitalen Revolution eine immer stärkere Entfremdung von ursprünglicher Lebensqualität (Gegenwärtigkeit, Bewusstsein, Einfachheit, Direktheit, innere und äußere Freiheit) stattgefunden hat und andauernd stattfindet.

In Marienbad gibt es als „Türsteher“ den stets kontrollierenden, immer gewinnenden Spieler, der seine Frau in einem Gefängnis aus Angst und Überwachung hält, einmal gibt es eine regelrechte Verhörszene, als der Spieler ein Foto seiner Frau findet, auf dem sie glücklich lächelt.

Der männliche Protagonist macht jedoch auch etliche entscheidende Fehler, die maßgeblich für den Kosmos von Marienbad sind.

Der namenlose Mann insistiert auf ihre Angst, drückt auf den wunden Punkt, anstatt Vertrauen und Vertrautheit aufzubauen, den Druck aus dem Verführungsspiel zu nehmen und sie somit von ihrer Angst zu befreien.

Er schmiedet Jahr für Jahr einen Fluchtplan, bevor das Kern des Problems gelöst ist: ihre Angst zu neutralisieren.

Er handelt zu egoistisch, zu sehr von seinem eigenen Bedürfnis nach Liebe getrieben.

Eine tiefe und nachhaltige Verführung bedeutet im Wesentlichen, von seinen eigenen Bedürfnissen zurückzutreten und dem Gegenüber sämtliche Ängste zu nehmen.

Alle großen Filmregisseure sind meisterhafte Verführer und Manipulatoren - zumindest in ihrer Arbeit.
MUSTER UND SYSTEME
Es gibt erstaunliche Parallelen zwischen L'année dernière à Marienbad von Alain Resnais und dem fast zeitgleich entstandenen L'Eclisse / Liebe 1962 von Michelangelo Antonioni.

Zwei Menschen begegnen sich, gefangen in Alltagsroutine und Öffnungsängsten.
Für einen kurzen Moment bricht die Routine, der Alltagszwang auf, als Alain Delon und Monica Vitti sich in L'Eclisse auf einer Wiese hingeben.
Sofort, als Delon und Vitti danach in die Mauern von Delons Büro (das Gefängnis seines Alltages) zurückkehren und die Telefone klingeln, ist die Liebesgeschichte abrupt beendet.
Beide können ihre innere Barriere / Angst nicht überwinden.

Fast identisch ist der Moment der Entgrenzung in Marienbad.
Als die beiden sich endlich verabreden, um zu fliehen, schlägt die Uhr.

Bei Marienbad das Klingeln der Uhr, bei L'Eclisse das Klingeln der Telefone als unerbittlicher Indikator der Unfreiheit der Protagonisten.

Zeit, vorher völlig aufgelöst, kehrt in Marienbad in Filmminute 87 (von insgesamt 90) gnadenlos zurück. Das namenlose Paar zuckt beim Schlagen der Uhr zusammen, das schlechte Gewissen schreit innerlich auf, aufoktroyiert vom übermächtigen Angstsystem, in dem sie verhaftet sind.

Seit der biblischen Ursünde, einer meisterhaften Erzählung, kämpft der Mensch in einem ständigen Spannungsfeld von Angst (Regeln, Pflicht) und Entgrenzung (Hingabe, die "verbotene Frucht").

L'Eclisse und Marienbad sind keine Filme über die Umöglichkeit von Liebe, sondern über die Macht der Angst über den Wunsch nach Entgrenzung.

Gelebte und erwiderte Liebe ist Entgrenzung pur und vielleicht die schönste und erstrebenswerte Erfahrung, die es in unserer Welt zu machen gilt.

Die meisten Regeln und limitierenden Faktoren sind von Menschen gemacht - Gesellschaftssysteme und Religionen sind von Menschen erfunden - alles in unserem Leben findet auf dem Spielfeld von Angst und unserem Streben nach Entgrenzung statt.

Deswegen liebt das Kino widerspenstige Einzelgänger, Revoluzzer und gefallene Engel, die aus tiefer, hehrer Überzeugung gegen ihr System ankämpfen (z.B. Erin Brokovic, Jack Sully in Avatar, Katniss in Hunger Games).

Im echten Leben kann das sehr gefährlich werden und wird nicht selten mit harten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Sanktionen belegt, selbst wenn der oder die Bestrafende(n) vielleicht insgeheim eine tiefe Bewunderung für den Handelnden empfinden.

In jedem Mensch schlummert jedoch ein tiefer Wunsch nach Entgrenzung, die spätestens im irdischen Tod unaufhaltsam stattfindet. (Siehe auch Artikel #6 - Projektkern (2), Kapitel "Existenz")

Dennoch begeben sich eine Menge Menschen paradoxerweise in blinden Gehorsam und Gefolgschaft von Systemen, in dem sie ihre Brötchen verdienen müssen und das ihnen mithilfe von Surrogaten und Geld Freiheit vorgaukelt.

Menschen streben stets nach Sicherheit, um in den Systemen dieser Welt bestehen zu können.

Da der Mensch ein Gewohnheitstier ist und Routine schätzt, weil sie wiederum Sicherheit gibt, akzeptiert er oftmals unglückliche Beziehungen im Privat- und Berufsleben, ein Leben voller Zwänge, Angstgefängnisse, wie in der Matrix, in der der Held Neo erst nach einer gewissen Zeit das echte, z.T. schmutzige und einfache Leben erkennen und verstehen muss, um das System am Ende zu überwinden.

Sicherheit scheint im realen Leben jedoch kostbarer als Freiheit zu sein, der Preis ist jedoch leider oftmals Angst statt Entgrenzung.
Ein flaches, gefühlsarmes Leben voller Sehnsüchte, das immer wieder von Angst reglementiert wird, anstatt gelebter, kostbarer Zeit.

Das Resultat sind dann zumeist kurze, affektive Entgrenzungsrituale, wie beispielsweise ein wochenendlicher Vollrausch, zwanghaftes Konsumverhalten, Gier oder andere Mittel der Betäubung, die einen kurzen, rauschhaften Befreiungsakt ermöglichen, der aber niemals nachhaltig oder andauernd ist.
ENDEN UND HÖHEPUNKTE
Während L'Eclisse klar als Tragödie funktioniert, bleibt das Ende von Marienbad ambivalent. Der Zuschauer weiß nicht genau, ob die Frau tatsächlich Marienbad gemeinsam mit ihrem Verehrer verlässt, sie ihren Mann und ihr bisheriges, Angst gesteuertes Leben hinter sich lässt.

Das Schlosshotel Marienbad liegt im Dunkel, als der namenlose Protagonist die Erzählung mit einer Beschreibung des Irrgartens des Schlossparks beendet.

Der negativ geneigte Zuschauer liest hierin sicherlich einen Triumph der Angst, die Flucht in eine Phantasiewelt des oder der Protagonisten.

Der positiv gestimmte Zuschauer hingegen, erkennt im Ende von Marienbad das Überwinden der Angst. Und die gemeinsame „Flucht“ des Paares in ein Leben, das immer voller Wirrungen, Labyrinthe und Hindernisse sein wird.

Im Prinzip ist selbst die Geschichte von Marienbad und James Camerons Titanic (1997) - bis auf das Ende und die in Titanic stattfindenden Entgrenzungen - im Kern dieselbe.

In Titanic versucht der Außenseiter Jack (Leonardo DiCaprio), eine in bestehenden Verhältnissen gefangene Frau, Rose (Kate Winslet), zu erobern.
Jack schafft dies, es kommt auch tatsächlich zu mehreren Entgrenzungsakten.

Selbstbestimmte Liebe, Sex auf dem Autodeck, das Fliegen auf dem Bug des Schiffes - was schließlich zu einer tiefen Läuterung der Heldin Rose führt - sie übernimmt am Ende Selbstverantwortung und rettet ihr eigenes Leben, ein emotional zutiefst erschütternder Moment, als sie im kalten Wasser lossschwimmt, als alle Hoffnung verloren ist und sie, nachdem Jack bereits von den Tiefen des Eismeeres geschluckt wurde, nach der Pfeife greift und sich rettet.

Ein pfeifender Höhepunkt, der durch Mark und Bein geht, Kino pur, da nichtverbal; Rose begreift, dass nur sie selber sich retten kann, nachdem ihr gesamtes voriges Leben mit allen Fesseln und Bevormundungen, aber sogar ihr neu gefundener Gefährte in den eisigen Fluten ertrunken ist.

Unter extremem Druck übernimmt sie das erste Mal Selbstverantwortung, um ihr Leben zu retten. Eine feine, bittersüße Variation des Romeo und Julia-Themas, angereichert um eine emanzipatorische Coming Of Age-Qualität.

Die Grundmuster der Geschichten von Marienbad, L'Eclisse, Avatar und Titanic sind exakt dieselben und handeln stets vom Grundprinzip des Lebens - Angst versus unserem Streben nach Entgrenzung.

Dieses Muster lässt sich in zahllosen weiteren Filmen, Medienprojekten, Büchern und anderen Kunstwerken wiederfinden.

Die Enden jedoch variieren und werden allein von der Haltung des / der Macher bestimmt:

A) es gibt Entgrenzung

B) es gibt keine Entgrenzung

C) Ambivalenz

Gerade Lösung C), wie in Marienbad, lädt uns ein, darüber nachzudenken und in uns hinein zu fühlen, wo wir selber stehen.

Wirklich gelungene Filme, die eine tatsächliche, existentielle Ambivalenz am Ende aufweisen, sind sehr selten.

Christopher Nolans Inception (2010) beispielsweise weist eine "falsche" Ambivalenz auf:

Inception hat einen bittersüßen, intellektuell vergifteten emotionalen Höhepunkt, der logisch aus der Geschichte resultiert, aber nicht das äußerste Spektrum des menschlichen Spannungsfeldes nutzt.
Das äußerste und wuchtigste Ende im Drama ist immer die Überwindung von Angst, eine Entgrenzung.
Aber diese Wahl hat Cobb (Leonardo DiCaprio) gar nicht, stattdessen gibt Nolan dem Zuschauer das Rätsel, ob Cobb sich in seine Traumwelt (Eskapismus) geflüchtet hat oder seine Kinder tatsächlich wiedersehen kann (Kitsch, da sich Want und Need gleichermaßen erfüllen würden).
Eskapismus ist nur eine Ausprägung von Angst, aber nicht das äußerste Ende, auch zu speziell, weil Eskapismus nicht für alle Menschen eine Option ist.
Das tatsächliche Überwinden von wahrhaftigen Grenzen hingegen hätte einen massiveren emotionalen Impact - die Möglichkeit der Entgrenzungsentscheidung liegt in Inception nicht bei Cobb selber, wie bei der namenlosen Frau in Marienbad, sondern ausschließlich im Kopf des Zuschauers.
Damit ignoriert Christopher Nolan das wesentliche Bedeutungsprinzip des Protagonisten im Film - nur durch ihn als Projektionsfläche kann der Zuschauer Läuterung erfahren.
Da Cobb aber nicht die Entscheidungsmöglichkeit hat, reduziert Regisseur Nolan die Ambivalenz auf eine intellektuelle Spielerei.
Christopher Nolan opfert das existentielle Potential seines Filmes für den erzählerischen Effekt, wenngleich er mit seinem opulenten Film den Zeitgeist von hyperaktiven, ständig mit Problemlösungen beschäftigten Zuschauerköpfen exakt traf und einen überaus erfolgreichen Film ablieferte.

In der Haltung des oder der Macher, die sich immer am Ende eines Filmes, Buches oder anderen Werkes findet, unterscheiden sich auch die "Genres" - L'Eclisse beispielsweise ist eine Tragödie, Titanic ein Melodram (Drama).

Melodram oder auch Drama bedeutet nichts anderes als Läuterung um einen sehr hohen Preis.

(Korrekterweise muss ich hier anmerken, dass es nach Aristoteles Definition nur Tragödie und Komödie gibt, die Komödie ist jedoch im Prinzip ein verstecktes Drama mit einer Läuterung des Protagonisten / der Protagonistin. Ich bevorzuge den Begriff Drama, da jede Komödie im Kern ein Drama mit Läuterungsplot ist.)

In der Tragödie ist einer der Protagonisten oder der Protagonist nicht bereit, nicht willens oder nicht fähig - aus Bequemlichkeit, aus Unvermögen, aus Unwissenheit, aus mangelnder Kraft, aufgrund innerer Grenzen oder schlicht aufgrund der Übermacht des Systems oder der antagonistischen Kraft - diesen hohen Preis zu bezahlen.
Deswegen gibt es keine Läuterung des Helden / der Heldin.

Eine Tragödie ist immer eine massive Systemkritik - eine Kritik des Lebens-, Welt- oder Wertesystems, in dem die Heldin oder der Held verwurzelt ist.

Beispielsweise wie in Szabós Mephisto (1981), in dem die Hauptfigur Höfgen (Brandauer) ein großer Schauspieler wird, aber am Ende nur noch dem Nazi-Regime dient. Dasselbe im Film Ides of March (2011) von George Clooney, in dem der Protagonist (Ryan Gosling) sich letzten Endes selber verrät und ans System verkauft.

Die Tragödie ist immer ein Erkenntnisplot ohne Läuterung.
Manchmal wird nicht einmal die Erkenntnis des Protagonisten oder der Protagonistin erzählt, diese findet ausschließlich im Kopf des Zuschauers statt.

Ein Melodram hat am Ende stets eine Wendung, für die der Held oder die Heldin einen hohen Preis bezahlen muss - materielle oder schwere persönliche Verluste, Aufgabe der ursprünglichen Ziele oder Ähnliches - in jedem Fall muss der Protagonist über sich hinaus wachsen und einen Teil seines (Angst)Systems oder das gesamte System, in dem er zuvor gelebt hat, hinter sich lassen oder überwinden wie beispielsweise in Matrix, wo Neo das gesamte System, die Matrix überwindet - ein tief religiöses Erlösermotiv.

Die wenigsten Dinge in diesem Leben gibt es geschenkt.

Dies gilt insbesondere für eine spirituelle Weiterentwicklung oder Läuterung.

Der Zuschauer würde sich betrogen fühlen, würde der Held ohne einen Preis zu bezahlen, Ziel und persönliche Weiterentwicklung / Erkenntnis erreichen.

So ist das Leben nicht.

No pain, no gain.

Und dann gibt es noch offene Enden, die leider viel zu oft an unserer Filmschule goutiert wurden.
Leider, da sie den Filmemacher nicht zu einer Haltung zwingen, das Ende bleibt beliebig und austauschbar, nicht zu verwechseln mit einer tatsächlichen, existentiellen Ambivalenz. Ich hätte mir damals gewünscht, mehr über die tatsächliche Relevanz von emotionaler Methodik (Handwerk) und Positionierung (Haltung) zu lernen.

Eine Tragikkomödie wie beispielsweise Oh Boy (2012) beschreibt ein bestimmtes Phänomen, ohne die Läuterung für den Helden zu kennen.

Die Lebensumstände werden persifliert und überhöht - sehr gute Komödie ist immer ein leichter, erträglich gemachter Umgang mit harten Wahrheiten, Grenzen und Schranken des Lebens.
Aber der Held (Tom Schilling) in Oh Boy kann nicht aus seiner Welt ausbrechen, was die Merkmale einer Tragödie ausmacht.
Regisseur und Autor Jan-Ole Gerster findet für Oh Boy stattdessen einen poetischen Ausstieg wie Antonioni in L'Eclisse - stimmungsvolle Scharzweiß-Plateaus von Berlin in der Morgenstimmung, die abschließend unterstreichen: so ist das Leben in der Adoleszenz in Berlin...
Ein bittersüßer, absolut filmischer Höhepunkt, der stilistisch mit dem Rest des Filmes bricht, aber durchaus zu dieser Coming Of Age-Zustandsbeschreibung passt und dem Film letztendlich das notwendige, finale Gewicht gibt.
Allerdings ist dieses Ende fast beliebig austauschbar, da es keine Haltung des Machers ausdrückt.

Offene Enden wirken ambivalent, sind es aber nicht. Ambivalente Enden bedeuten eine klare und existenzielle Wahlmöglichkeit.

Drama (oder Melodram) jedoch bedeutet nichts anderes, als ein Kampf des oder der Protagonisten gegen übermächtige Kräfte, in der der Held am Ende in einem Entgrenzungsmoment die Grenzen seines Systems (Plotebene) und seiner inneren Angst (emotionale Ebene) sprengt und dadurch zu einem immateriellen Wertgewinn kommt.

Dies kann eine Erkenntnis, eine neue Fähigkeit oder auch das Loslassen einer Sache sein.

Eine finale Wendung das Protagonisten, die zwangsläufig auch eine Wendung der Geschichte im letzten Akt bedeutet.

In der Tragödie bleibt der Held stets Gefangener und Unterlegener des Systems, in dem er lebt.

Zuerst ist im Drama eine Störung, die Angst hervorruft, die tief in einem System oder unserer Lebensrealität verankert ist.
Oftmals findet dies im Sicherheitsstreben / dem Festhalten an Routine der Figur(en) Ausdruck.
Dann folgen die Entgrenzungen - im äußersten Fall bis zu einer
Läuterung - so schlicht lässt sich die Funktionsweise eines Filmes oder dramatisch aufgebauten Stückes beschreiben.

Dieses Prinzip ist universell und gilt für jeden Lebensbereich, Lebensabschnitt und das gesamte Leben, wenn wir uns weiterentwickeln.
Oftmals ist die Angst nicht offenkundig - es geht um Routine, Sicherheitsstreben, Gewohnheit.

Deswegen können uns nur ängstliche Protagonisten in Filmen berühren, da wir alle dieses Prinzip aus unserem Leben kennen.

Filmfiguren, die von Anfang an furchtlos sind, oftmals zu bestaunen bei flach gestalteten Bösewichten, bewundern wir, aber sie schüchtern uns zu sehr ein, als dass wir sie wirklich in unsere Herzen schließen würden.

Jeder gut gemachte Film folgt - bewusst oder unbewusst - diesem Prinzip.

Dramaturgie ist nichts weiter als eine extreme Komprimierung dieses Prinzips auf eine bestimmte Filmzeit oder Ereigniszeit und lässt sich auch bei Reden, in Büchern oder Kommunikationsprojekten jeglicher Art anwenden.

Seichte Unterhaltung kennt diese Gesetzmäßigkeit des Lebens nicht.
TÜRSTEHER
Kafkas zuvor erwähnte Türsteherparabel Vor dem Gesetz bringt das Spannungsfeld unseres Lebens auf den Punkt.
Kafka ist ein Schriftsteller gewesen, der sich zeitlebens mit seiner Angst auseinandergesetzt hat.

Bei Kafka ist die Bedeutung des Türstehers auf den ersten Blick klar.

Gerade im Film bedarf es meist klarer, personifizierter Antagonisten, die nichts weiter sind, als lebendig gewordene Angst-Systemik.

Das jeweilige System, in dem der oder die Protagonisten gefangen sind, wird auf einen oder mehrere Antagonisten zugespitzt, Homo homines lupus est.

Je authentischer und lebendiger dieser Antagonisten-Wolf gelingt, desto intensiver die Geschichte.

Als der Mann in Kafkas Kurzgeschichte, der Eintritt zum Gesetz verlangt, schließlich stirbt, will er von dem Türsteher wissen, warum nie jemand anderes Eintritt zur Tür verlangt habe.
Der Türsteher lässt den Mann wissen, dass dieser Eingang nur für ihn bestimmt gewesen sei und er nun den Eingang verschließen werde.

Vor dem Gesetz ist eine wunderbare Lebensparabel - jeder Mensch muss seine Chancen ergreifen und seine Ängste, manchmal auch Furcht vor vermeintlichen Obrigkeiten, Hindernissen und imaginierten Grenzen überwinden, um den ihm oder ihr beschiedenen Weg zu finden und zu gehen.
Selbst die Angst vor dem Tod und das zu lange Festhalten an Vergangenem ist irrational.

Der Tod ist unvermeidbar, Vergangenes lässt sich nicht ungeschehen machen.

Die Angst, die uns innerlich und in unserem Handeln bremst, ist eine Kraft, die uns davon abhält, selbstbestimmt zu handeln und unserem Streben nach Entgrenzung nachzugeben und auch tatsächliche, wunderschöne Entgrenzungsakte zu erleben.

In der Kunst, in unserer Arbeit, in unserem Leben.

Leben bedeutet Risiko und ist manchmal voller schmerzhafter Rückschläge, bitterer Niederlagen, Verluste und Erfahrungen.

Diese sind jedoch - genau wie wunderschöne Augenblicke, Siege und große Erkenntnismomente - Teil unseres Lebens.

Dies akzeptieren zu lernen und dabei weiterhin den eigenen Mut zu bewahren, ist einer der wichtigsten Schritte, die ein Mensch vollbringen kann.

Unser irdisches Dasein ist qua Existenz ein begrenzter Erlösungsplot, es liegt in unserer Hand, ob wir uns unserer Angst oder unserem Streben nach Entgrenzung hingeben und vermeintliche, oft Mensch gemachte Barrieren überwinden und ein erfülltes Leben leben.



Leben und Dramaturgie, Teil II von II.
© 2014 Janosch Orlowsky. Nachdruck und / oder Verbreitung nur mit schriftlicher Genehmigung.
Stacks Image 578
APPENDIX:

Das wohl beste Buch über Storytelling und Filmdramaturgie, das auch viele andere Aspekte des Lebens und Filmemachens umfasst, ist für mich Story von Robert McKee.

Aus diesem Buch lernte ich fachlich und handwerklich mehr, als in mehreren Jahren Filmschule.

Es ist furchtbar didaktisch und nicht leicht verdaulich, zudem setzt es ein gewisses Grundhandwerk voraus. Jedem Filmschaffenden, der schon ein paar Jahre in der Materie tätig ist, kann ich die Lektüre nur empfehlen.

Story liegt bei jeder Projektentwicklung in meiner Griffnähe; es hilft mir, mich auf Prinzipien zu entsinnen und bei schwierigen Fragestellungen die Einfachheit komplexer Probleme wiederzuentdecken.

Etliche meiner eigenen Methoden und Arbeitsphilosophien basieren auf diesem Buch.