#3: INTERESSE UND ERTRAG

KÖDER, WERT, ABNEHMENDE WIEDERKEHR

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Foto ©2013 Janosch Orlowsky
KÖDER
In der heutigen Zeit wird das Entertainmentangebot jeden Tag breiter.

Wir können uns kaum noch vor den ganzen Möglichkeiten der Unterhaltung retten, wissen oft nicht mehr, was wir uns anschauen, -hören oder lesen sollen.

User Generated Content mischt sich mit professionellen Angeboten, klassische Entertainment- und Fernsehkonzerne stellen sich strategisch vollkommen neu auf, um im digitalen Wandel nicht vollkommen unterzugehen. Bisherige IT-Konzerne und fachfremde Unternehmen drängen in den Unterhaltungssektor, als Beispiel seien hier Yahoo oder auch Amazon genannt.

Umso wichtiger wird es, potentielle Zuschauerinnen und Zuschauer bzw. Rezipienten erst einmal an die Angel zu bekommen.

Der Köder ist der erste, elementare Schlüssel, um Interesse zu wecken.

Bei einem Film kann dies eine außergewöhnliche Grundidee oder auch Prämisse sein. „Was wäre wenn...“
Dies ist im besten Fall der originellste Köder.

Der am häufigsten eingesetzte Köder ist jedoch ein gigantisches Package, das über Stars, Macher oder bekannte, proven-Success-Marken funktioniert, meist sogar in Kombination aller drei Komponenten.

Proven Success-Marken - oder auch Franchises - sind beispielsweise Comics, Romane mit Welterfolg, Kultur- oder Zeitgeist-Phänomene, Geschichtsereignisse, herausragende Persönlichkeiten usw.

Eine weitere Möglichkeit ist eine außergewöhnliche Machart.
Dies ist - neben dem Package - ein sehr effektives Mittel, das beispielsweise über Trailer / Teaser oder andere Kommunikationsformen läuft.
Das Handwerk (Umsetzung) ist elementare Grundvoraussetzung, darf aber kein Alleinstellungsmerkmal als Köder haben, da wir sonst bald nur noch völlig sinnentleerte Filme und ebenso leeres Entertainment haben.

Neugier ist ein elementarer menschlicher Antrieb und das Verstehen dieses Phänomens ist essentiell, um den richtigen Köder für sein Film- oder Unterhaltungsprojekt zu wählen - woher kommt Neugier also?

In den ersten Artikeln #1 und #2 „Leben und Dramaturgie“ habe ich mich mit dem Spannungsfeld, in dem jegliche menschliche Emotion entsteht, auseinandergesetzt.

Auch Neugier hat ihren Kern in der existentiellen Spannung zwischen Angst und Entgrenzungsstreben.

Fährt oder geht man beispielsweise durch Straßen in einer Stadt, begegnen einem an jeder Ecke die verschiedensten Botschaften:

Spannende Menschen, prächtige Schaufenster, Plakate, Litfaßsäulen, Schriftzüge, Farben, Displays mit Bewegtbild-Content - oder auch eine außergewöhnliche Situation.

Gehen wir mal von einem Verkehrsunfall aus.

Unwillkürlich sehen wir hin - oder wir unterdrücken unseren Instinkt, dorthin zu sehen.

Aus irgendeinem Grund können wir nicht anders.

In meiner Zivildienstzeit beim Rettungsdienst wurde öfter ich Zeuge von regelrechten Glotzorgien.
Manchmal, je nach Schwere des Unfalls, zeichnete sich auf den Gesichtern Betroffenheit oder Schreck ab oder bei den leichteren Fällen auch Erleichterung, immer jedoch Neugier.

Woher kommt dieser Drang, dass wir nicht widerstehen können und hinsehen müssen?

Verhaltensbiologen würden vermutlich als Hauptgrund die potentielle Gefahr benennen.
Tief in unseren Genen sind sehr feine Warnmechanismen eingebaut, die uns auf bestimmte Situationen nach instinktiven Mustern reagieren lassen.


Konstruieren wir einen Fall A:
2 PKW, leichter Blechschaden, Polizeiwagen, aber alles auf den ersten Blick paletti.


Die Ursache für unser erstes Hinsehen ist sicherlich ein Urinstinkt. Die potentielle Gefahr, die von dieser Situation auszugehen scheint. Erkennen wir jedoch, dass für uns keine Gefahr besteht und die Situation unter Kontrolle ist, sehen wir dennoch allzu gerne weiter zum Ort des Geschehens.

Die Ursache hierfür ist relativ einfach und nur allzu verständlich.
Vermutlich leben wir in einer Welt aus Langeweile und Monotonie, voller Routine und geregeltem Tagesablauf.
Unser Hinsehen drückt einen Wunsch nach Ablenkung aus, nach einer kleinen Zerstreuung, einer kurzen, erfrischenden Variation. Wir erleben einen Moment der Unterbrechung unseres Alltags, was nichts weiter ist, als ein kleiner, wenn auch nur kurzweiliger Entgrenzungsakt.

In allem Sehnen steckt ein tiefer Wunsch nach Entgrenzung von unserem allzu reglementierten Dasein.
Das ist das Geheimnis von Neugier.


Neugier alleine ist für den Köder ausreichend, aber es gibt noch weitere Elemente, die helfen, Interesse zu schaffen.


In einem Fall B gibt es folgende Situation:
2 PKW, schwerer Blechschaden, Rettungs- und Polizeiwagen, Chaos, Blut.


Auch hier greift ein zunächst dasselbe Reizschema.
Wir sehen hin, um die Gefahr einzuschätzen und uns selber potentiell zu schützen.
Dann greift vielleicht ein Hilfsinstinkt, aber wir sehen, dass die Situation bereits von professionellen Kräften gemanagt wird.

Wenn wir jetzt unseren Blick immer noch nicht abwenden können und nicht einfach weitergehen, ist wahrscheinlich Mitgefühl, aber noch etwas anderes, vermutlich Stärkeres in uns am Arbeiten:

Wir werden unmittelbar mit den Unwägbarkeiten des Lebens konfrontiert.

Eine tief verdrängte Auseinandersetzung mit unserer eigenen Vergänglichkeit schwappt vielleicht für einen Moment an die Oberfläche, für einen Augenblick wird an den Grundfesten der vermeintlichen Sicherheit unseres Alltags und unseres scheinbar kontrollierten Lebens gerüttelt.
Plötzlich beschleicht uns vielleicht eine Angst vor dem Ungewissen, in diesem Fall vor einer schweren Krankheit, einer Verletzung oder dem Tod.



Oftmals, wenn ein bekannter Mensch, zu dem wir keine direkte persönliche Beziehung haben, stirbt oder einer (beliebten) öffentlichen Person etwas Schreckliches passiert, fühlen wir ein diffuses Gefühl der Betroffenheit.

Nehmen wir beispielsweise die viel zu frühen Tode der Schauspieler Heath Ledger, Philip Seymour Hoffman, Paul Walker, James Dean, Marylin Monroe.
Oder auch den Skiunfall von Michael Schumacher.

Das ähnelt in seinen Grundzügen dem schweren Verkehrsunfall, den wir zufällig auf der Straße sehen.

Unsere Betroffenheit funktioniert in diesen Fällen jedoch zusätzlich über eine kollektiv empfundene Aufladung der betroffenen Person - vielleicht Idealisierung, vielleicht Vorbildfunktion, auf jeden Fall zeichnet die Person eine Qualität aus, die sie gesellschaftlich exponiert.
Die verunglückte / verstorbene Persönlichkeit hat uns vielleicht früher auf die eine oder andere Weise berührt. Uns zum Lachen oder zum Weinen, zum Jubeln gebracht - auf jeden Fall zu einer Erkenntnis, dass es möglich ist, unsere eigenen Grenzen zu überwinden.

Erst der zweite Gedanke ist vielleicht: „Es wird nie wieder einen Film mit Philip Seymour Hoffmann geben.“


Nur, wenn wir Menschen verlieren, die uns wirklich persönlich nahe stehen, die wir vielleicht sogar lieben, funktioniert dieses Prinzip anders herum.

Hier geht uns zunächst der schwere Verlust nahe, dann folgt später vielleicht die Auseinandersetzung mit unser eigenen Vergänglichkeit.

Tiefe und wahrhaftige Kunst und Filme, selbst überragendes Entertainment, kennt diese Gesetzmäßigkeit des Lebens.

Je stärker die Figuren / Protagonisten einer Geschichte aufgeladen werden, desto elementarer ist die Berührung.


Insbesondere im Kino geht es stets zuerst um Intensität, um Berührung.

Im seichten Entertainment wird ausschließlich mit einer Aneinanderreihung von „emotionalen Spoilern“ gearbeitet - was flüchtig funktioniert und kurzfristig sogar überwältigen kann (siehe derzeitige Blockbuster), aber es gibt keine tiefere Wahrheit oder einen ideellen Wert zu entdecken.

Wir alle kennen die großen, spektakulären Unfälle, die im Entertainment lebendig werden:

Das Dschungelcamp (gefallene Stars und Sternchen werden kollektiv erniedrigt, ihnen immer wieder ihre Grenzen und ihr Scheitern verdeutlicht)

The Avengers (eine Truppe Superhelden rettet die Welt vor einer außerirdischen Invasion, Grenzen werden fast beliebig gesprengt).

Es gibt zahllose Beispiele, in denen das Unfallprinzip als Köder genutzt wird.

Die Katastrophe ist seit Anbeginn ein elementarer Bestandteil des Dramas, weil sie das Prinzip unseres Lebens (komprimiert) auf den Punkt bringt:
eine tiefe Erschütterung unserer Sicherheiten, unserer Ordnungs- und Alltagssysteme.

Meist funktionieren Katastrophen oder Unfälle wie kleine, kurze Ablenkungen - wir erleben etwas, aber es fehlt die Hingabe unserer Gefühle, weil das Erlebte keinen Wert für uns entfaltet.

Für einen kurzen Moment suchen wir im Katastrophen-Entertainment Zerstreuung, vielleicht ein kleines spirituelles Erleben oder einen kurzen Grusel, auch wenn es nur für einen Augenblick ist.

Der Köder entscheidet maßgeblich, ob ein Projekt oder Werk sein Publikum findet, ohne einen starken Köder wird in der heutigen Zeit kaum ein Film- oder Entertainmentprojekt seine Kosten wieder einspielen.

Aber um ein wertvolles Werk oder einen wertvollen Film zu schaffen, bedarf es einer Transformation des Köders in etwas anderes...
BEDEUTUNG UND WERT
Wir erkennen den wahren Wert einer Sache oftmals erst, wenn wir sie zu verlieren drohen oder wenn wir sie verloren haben.

Dies hängt mit der Latenz der Seele, unserer Trägheit des Herzens zusammen.

Im Drama wird die Protagonistin oder der Protagonist ständig mit Verlustszenarien konfrontiert. So zeigt sie oder er, was wirklich in ihr / ihm steckt....


Wie schon in einigen der vorigen Artikel beschreiben, gibt es ein wichtiges Grundprinzip für das Aufrechterhalten von Interesse.

Robert McKee bringt diesen Sachverhalt mit einer einfachen Formel in seinem Buch „Story“ auf den Punkt:

Nur Bedeutung schafft Wert.

Bedeutung heißt in diesem Fall eine Aufladung der handelnden Figuren.
Dies geschieht durch Erzählzeit (Screen Time) und vor allem durch emotionale Bedeutung.

Emotionale Bedeutung entsteht durch Handlung und durch Konflikt, nicht durch Verbalisierung in charakterisierenden, erklärenden Dialogen oder Symbolik, nicht durch metaphorische Bilder oder Voiceover. (Siehe z.B. The Counselor.)

Ein weiteres dramaturgisches Grundgesetz sagt, dass Figuren nur unter Druck ihren wahren Charakter zeigen.

Im echten Leben ist dies manchmal schwierig, ich habe schon das eine oder andere Mal erlebt, dass ich in „kalifornischen Dialogen“ versucht habe, möglichst schnell herauszufinden, was meinen Gesprächspartner im tiefsten Innern antreibt; das kommt jedoch nicht immer gut an und überfordert viele Menschen, weil schlicht noch nicht genügend Vertrauen bzw. Vertrautheit vorhanden ist und viele mit direkter Offenheit nicht umgehen können oder wollen.

In der Dramaturgie hingegen muss es möglichst INTENSIVE Szenen geben, die der Zuschauerin / dem Zuschauer innerhalb der Grenzen der Erzählzeit zeigen - genau so handelt eine Protagonistin / ein Protagonist unter Druck - nach und nach enthüllt sich so ein möglichst komplexes Figurenbild, das zentrale Charaktermerkmale der oder des Handelnden für den Zuschauer offenbart.

Wie reif ist ein Protagonist?
Was hat ihn oder sie zu dem gemacht, was sie ist?

Im Kern müssen diese Charaktermerkmale wahrhaftig sein.

Wahrhaftig bedeutet: für Zuschauer / Rezipienten nachvollziehbar und vor allem nachfühlbar.

Stimmen konkrete Motivation und Glaubwürdigkeit der menschlichen Antriebe einer Figur, kann das Setting einer Geschichte noch so abgefahren, abstrakt oder auch in anderen Epochen verortet sein.

Die menschlichen Antriebe und Konflikte müssen für emotionale Erzählungen stets nachvollziehbar und wahrhaftig sein, um Zuschauerinnen und Zuschauer / Rezipienten zu erreichen. Je globaler diese Eigenschaften angelegt sind, desto mehr Menschen wird ein bestimmter Film oder ein bestimmtes Werk erreichen.

Und global bedeutet in diesem Fall nichts weiter als ursprünglich.

Gefühle und Wünsche, Sehnsüchte und Antriebe, die (fast) jeder Mensch kennt und deswegen mit seiner eigenen Lebenserfahrung, seinem eigenen emotionalen Koordinatensystem vereinen kann.

Wenn diese Dinge im Geschichtskern tief verankert sind, ist es egal, welches Genre, welche Epoche, welches Setting gewählt wird, der Film oder das Werk hat auf jeden Fall wichtige Grundvoraussetzungen, um sein Publikum finden.

Der emotionale Wert von Figuren und Handlungen entsteht durch die kontinuierliche Aufladung des oder der Protagonist(inn)en, durch die zuvor beschriebenen Handlungen / Prüfungen und natürlich durch die erzählte Screen-Time.

Manchen Filmen (z.B. Episoden oder Ensemble-Filmen) gelingt es, durch wenige, intensive oder vielleicht sogar unvergessliche Szenen, einer oder mehreren Figuren so viel Tiefe und Wahrhaftigkeit zu geben, dass bereits sehr wenig Screen-Time genügt, um der Zuschauerin, dem Zuschauer sofort wesentliche Merkmale des Charakters nahe zu bringen und tiefe Emotionen auszulösen, wenn diese Figur(en) mit großen Prüfungen konfrontiert werden.

Nur, wenn wir jemanden kennen, sind wir bereit mit ihm (oder ihr) zu fühlen, je näher uns ein Mensch steht, desto heftiger der Impact, wenn dieser Person etwas Schreckliches - oder auch etwas Wundervolles geschieht, wenn dieser Mensch Grenzen sprengt und über sich hinauswächst, vielleicht sogar das System, in dem sie oder er lebt, überwindet und zu einer tieferen Wahrheit oder Erkenntnis findet.
INTERESSE ERHALTEN - DAS SPIEL MIT DEM UNBEKANNTEN
Es ist wichtig, das Initialinteresse - oder auch die Prämisse - möglichst rasch in wahres, tiefes Interesse umzuwandeln.

Dies geschieht primär über die Verwicklung der Figur(en) in Geschehnisse, die sie zum Agieren zwingen.

Es gibt viele Filme, die entweder nur Plot-Driven (d.h. von den oberflächlichen Ereignissen getrieben, meist Blockbuster) oder nur figurengetrieben sind (oft Arthouse-Filme).

Filme, die ihre Geschichte nur auf dem Plot aufbauen, können kurzweilig sein und erstaunlich gut funktionieren, weil sie unsere Sehnsucht nach Spektakel und Ablenkung kurz befriedigen.
Meist ist der Inhalt jedoch nach wenigen Stunden oder Tagen vergessen, es gibt nichts Nachhaltiges, was uns später wieder zu diesem Film zurückkehren lässt.

Filme, die rein eine Figurenentwicklung erzählen, aber gar keinen oder nur einen Minimal-Plot aufweisen, mögen berühren, aber sie haben große Schwierigkeiten, ihr Publikum zu finden.

Gute Filme kombinieren diese beiden Ebenen - sie haben einen starken Plot (meist auch einen starken Köder) und eine intensive Figurenentwicklung (meist mit Läuterung oder einer tiefen Erkenntnis der Hauptfigur(en)) als Geschichtskern.

Gleich am Anfang eines Filmes oder auch bei manchen Entertainment-Projekten hilft es deswegen, ganz klar zu definieren, wohin die Reise EMOTIONAL gehen soll.

Wenn gleich am Anfang eines Filmes der Zuschauerin oder dem Zuschauer unterbewusst (manchmal auch bewusst) klar gemacht wird, was der tiefste Antrieb der Hauptfigur(en) ist; ihr größtes Bedürfnis, ihre größte Angst, das System, in dem sie gefangen sind, definiert wird - dann ist eine wichtige Grundvoraussetzung für emotionales Erzählen geschaffen:

Ist die emotionale Fahrtrichtung einmal definiert, muss man dem Zuschauer das geben, was er (emotional) erwartet - aber nicht, wie er es erwartet.

Sobald das (emotionale) Spielfeld klar ist, kann auf Plot-Ebene alles passieren. Dies soll nicht zu billigen, schlichten Sentimentalitäten führen, sondern zu einer intensiven Abhandlung eines bestimmten menschlichen Sachverhalts.

Ein paar Beispiele:

„Das Schweigen der Lämmer“ (Jonathan Demme) ist ein Film über den Umgang mit und die Überwindung von Angst.

„The Deer Hunter“ („Die durch die Hölle gehen“, Michael Cimino) ist eine Geschichte über die Entwurzelung einer ganzen Gesellschaft durch Krieg.

„Zero Dark Thirty“ (Kathryn Bigelow) ist eine Geschichte über das Recht des Menschen, über andere zu richten.

„Forrest Gump“ (Robert Zemeckis) ist ein Film über das Überwinden von menschlichen Grenzen.

Wer seine Geschichte auf diese Spannungsfelder herunterbrechen kann, kennt das Spielfeld seines Projektes.


Und alle menschlichen Emotionen entstehen wiederum im Spannungsfeld zwischen Angst und unserem Streben nach Entgrenzung.

Das Interesse kann durch verschiedene erzählerische Werkzeuge erhalten werden.
Hier die in meinen Augen wichtigsten Tools:

1.
Neugier (z.B. durch Auslassung oder nichtlineare Erzählformen) / Spannung / Suspense.

2.
Äußere (Plot) und innere (Figuren) Wendungen, die der Geschichte z.B. eine völlig neue Richtung geben.

3.
antizipiertes Figurenverhalten (wird sich X so verhalten wie erwartet - oder gegenteilig, vielleicht auch über sich hinaus wachsen?).
Jede Prüfung, der sich eine Figur konfrontiert sieht, ist auch eine potentielle Wendung in der Geschichte.

Bei allen drei Werkzeugen geht es um das Unbekannte.


Je größer beispielsweise die Spannung ist, desto intensiver begibt sich die Zuschauerin / der Zuschauer in die Handlung.

Spannung oder eines der Werkzeuge allein ist jedoch bedeutungslos, wenn wir nicht an die Figuren oder die Geschichte emotional herankommen.

Das Unbekannte (Wendungen, Spannung, Suspense etc.) auf dem Fundament einer oder mehrerer allgemeingültigen, wahrhaftigen menschlichen Empfindung(en) oder Erkenntnisse ist der Schlüssel zu gutem Storytelling und der wichtigste Grund dafür, dass Menschen Geld für Kinokarten oder andere Entertainmenterlebnisse ausgeben.

Dies gilt für die verschiedensten Entertainment- und Kunstformen, selbst für Werbekampagnen und andere Formen der (zwischenmenschlichen) Kommunikation.

Letztendlich geht es um Vertrautheit, durch die sich die Zuschauerin / der Zuschauer oder auch die Rezipientin / der Rezipient bereitwillig mit auf die Reise begibt und selbst erlebte Gefühle und Erfahrungen unbewusst verarbeitet oder sich auf die eine oder andere Weise damit auseinandersetzt.

Ein Film ist ein zeitlich begrenztes Medium, es hilft ungemein, eine klare Aussage oder Idee („beherrschende Idee“) zu finden, um darauf die gesamte Geschichte mit all ihren Ebenen aufzubauen.

Aber auch der Geschichtskern allein genügt nicht, um Interesse aufrecht zu erhalten.

Zum Interesse gehört unbedingt das Unbekannte.

Je origineller der Geschichtenerzähler, desto tiefer wird er die Zuschauerin / den Zuschauer oder auch Rezipienten in seinen Bann ziehen.

Originalität und Phantasie, die sich im Spektrum des menschlich Möglichen und des menschlich Gewünschtem abspielt, ist das Grundrüstzeug des Kreativen und Künstlers.

Wenn eine Idee zu abstrakt wird, läuft sie Gefahr, nicht mehr zu berühren, da sie sich dem Verständnis unserer Seele entzieht.

Der Verstand kann sich alles mögliche ausdenken, was absolut legitim ist.

So lange die Sache im Kern mit unseren Gefühlen nachvollziehbar, d.h. im Rahmen des Möglichen bleibt. Selbst die fantastischsten Träume oder Gedanken sind legitime Bestandteile eines Geschichtskerns, wenn sie menschlich nachvollziehbar bleiben, d.h. z.B. einem tiefen Sehnen der Seele entspringen.

Sehnsucht hat immer ein Entgrenzungserlebnis zum Ziel.

Es gibt Ausnahmen - Phänomene, Filme, Werke, die mit all diesen Regeln und Mustern brechen - sie mögen uns kurzweilig faszinieren, aber sie entfalten keine nachhaltige Wirkung, weil ihnen die menschliche Substanz fehlt.

Nur Werke / Projekte mit einer starken menschlichen Substanz lassen uns regelmäßig zu ihnen zurückkehren, sie neu entdecken oder immer wieder in einem anderen Licht sehen - wenn wir uns selber weiter entwickeln, Erfahrungen gewinnen und zu neuen Einsichten über uns selber und die Welt kommen.
ERTRAGSGESETZ
In heutigen Blockbustern und größeren Entertainmentprojekten wird Originalität gerne durch Sensationspornografie ersetzt.

Es gibt meist eine starke emotionale Grundstimmung - jedoch ohne tiefere Erkenntnis oder Wahrheit - die mit der Sehnsucht von Menschen spielt.
Insbesondere in der heutigen Zeit - durch digitale Kommunikation, Reizüberflutung, Multitasking, ständige Verfügbarkeit etc. - haben sich Menschen (in westlichen Gesellschaften) immer stärker von Ursprünglichem entfernt.

Hinzu kommen Leistungsdruck, Performance, Benchmarking - und was es sonst nicht so alles für Vergleichsmethoden gibt, die den Wert von Menschen definieren.

Es ist klar, dass in einem solchen Druckszenario kaum noch Raum für wahre, ursprüngliche Gefühle und Gegenwärtigkeit bleibt.

Im Prinzip entfernt der Mensch sich antiproportional zu den Fortschritten unserer modernen, digitalen Welt von Ursprünglichkeit, die Konsequenzen sind in ihrer vollen Form noch nicht abzusehen.

Große Studios und Unterhaltungskonzerne spielen mit den menschlichen Sehnsüchten, sie kennen all die unterdrückten Gefühle, die wir aufgrund von gesellschaftlichen und beruflichen Konventionen nicht mehr ausleben bzw. zeigen dürfen.

Viele aktuelle Blockbuster bauen auf diesen menschlichen Sehnsüchten auf und schaffen ein meist sentimentales Fundament, das dann auf Plotebene mit einem gewaltigen Spektakel aufgeladen wird.

In Zeiten von Youtube, Netflix & Co, in denen die Aufmerksamkeitsspannen von Zuschauern rapide gesunken sind, werden in hochpreisigen, aktuellen Produktionen immer aggressiver spektakuläre Wendungen und CGI-Feuerwerke (digitale Effekte) inflationär eingesetzt.

Der US-Regisseur und mehrfache Oscarpreisträger Steven Soderbergh nannte dieses Phänomen „Mayhem-Porn“, aus diesem Grund dreht er zurzeit keine Kinofilme mehr, sondern konzentriert sich auf serielle Formate, bei denen er sich auf Figuren- und Storyentwicklung konzentrieren kann, die mehr Erzählzeit benötigt, als im Rahmen eines zwei- oder zweieinhalbstündigen Kinofilmes möglich wäre.

Steven Spielberg und George Lucas gingen sogar soweit, einen Kollaps des gesamten Filmsystems (in den USA) vorauszusagen, da viele Studios nur noch auf Mega-Blockbuster mit immer gleichen Inhalten setzten, inzwischen sind die P'n'A (Kopien- und Werbung)-Etats ins Uferlose gestiegen, es gibt kaum noch Studio-Produktionen mit mittleren oder kleinen Etats. Alles ist global und muss dementsprechend teuer vermarktet werden.

Das europäische Kino lebt derzeit von Kulturförderungen, ohne die es bereits längst ausgestorben wäre, da nur ein geringer Prozentsatz europäischer Produktionen auch kommerziell wirklich funktioniert.

Dass wir aus den USA in den vergangenen Jahren fast ausschließlich Prequels, Sequels und Comicverfilmungen, oder auch große Action-Blockbuster vorgesetzt bekommen (von einigen sehr feinen Independent-Produktionen abgesehen), liegt schlicht und ergreifend an der Angst der Studios.

Dort regieren Buchhalter und Zahlenmenschen, die Performance bringen müssen.

Hollywood ist zu einem System der Angst geworden und spiegelt damit eine grundsätzliche Entwicklung der USA in den vergangenen Jahren (insbesondere seit 9/11) wider.

Es geht visuell-inhaltlich oftmals um Machtdemonstration (technische und ideelle Überlegenheit), auf das Minimum reduzierte Erlöserplots (insbesondere bei Superhelden-Verfilmungen) und darüber hinaus um schnellen Kommerz, maximalen Gewinn und nackte Zahlen, allerdings können sich Künstler in solchen Umfeldern (mit wenigen Ausnahmen) nicht wirklich frei entfalten. Selbst Ausnahmeregisseure wie Soderbergh oder auch Robert Zemeckis („Forrest Gump“, „Zurück in die Zukunft“) bekommen kaum noch künstlerisch wertvolle Filme (wie z.B. Zemeckis „Flight“, Budget ca. 30 M) finanziert, sie kämpfen und finden sich praktisch in einer neuen, fremden Welt wieder, die nichts mehr mit der ursprünglichen Traumfabrik zu tun hat.

Denke ich an das letzte Kinojahr (2013), fallen mir gleich drei sehr enttäuschende Mega-Blockbuster (die trotzdem an der Kasse funktionierten) ein:

Man Of Steel, Iron Man 3, Star Trek.

Alle drei Filme laborieren an derselben Krankheit: wenig Originalität, dafür massive CGI-Orgien. Kaum interessante, spannende Wendungen, dafür erschlagendes State-of-the-Art-Handwerk.

In allen drei Filmen wird Originalität mit Quantität verwechselt, was unserer oberflächlichen Zeit geschuldet ist und deswegen momentan sehr gut an der Kasse funktioniert.

In Star Trek beispielsweise erinnere ich mich an keine einzige originelle Wendung, dort wurde das Prinzip „Deus Ex Macchina“ zur Reinkultur erhoben, bei Iron Man 3 gab es beliebig viele Antagonisten und eine Materialschlacht ohne Seele, zudem kein klares Erzählsystem (wie kann „das Böse“ besiegt werden?), Man Of Steel war eine völlig entleerte Aneinanderreihung von Sensationen, zudem mit einem Hauptdarsteller, der jegliches Charisma vermissen ließ.

Die Man of Steel-DVD wurde dafür gleich nach Erscheinen für 5 € rausgekloppt, da der Film nichts Nachhaltiges hat und noch schnell eine Gewinnmitnahme stattfinden musste.

Dieser Trend wird sich vielleicht in den kommenden Jahren noch fortsetzen, doch die Kinozuschauer werden bald von der Substanzlosigkeit und der Leere dieser Art von Film und Entertainment genug haben.


Das Prinzip der abnehmenden Wiederkehr, das Ertragsgesetz, das eigentlich gerade die Zahlenmenschen in den Studios kennen sollten - es ist ein Wirtschaftsgesetz - besagt, dass eine Sache nur beim ersten Mal seine volle Wirkung entfaltet.
Danach schwächt sich die Wirkung ab, zur Kompensation muss der Reiz erhöht werden. Irgendwann verkehrt sich die ursprüngliche Wirkung jedoch sogar ins Gegenteil.

(Siehe hierzu auch Artikel #14.)


Ständige Sensationssteigerung ersetzt keine Originalität und vor allem verkauft sie den Zuschauer für dumm.

Dieses Phänomen nutzt den Zeitgeist - Entfremdung, flache Gefühle - und die daraus resultierenden, schlummernden Sehnsüchte der Zuschauer gnadenlos aus.

Lärm statt Berührung.

Emotionale Spoiler (im Sinne von drangepappten Sentimentalitäten) statt tiefer Gefühle und Wahrheiten über das Leben.

Aktuelle Hollywoodproduktionen handeln nach der Maxime, diese Publikumsschwäche zu monetarisieren, diese Trends lassen sich auch in vielen anderen Bereichen von Entertainment und Kunst beobachten.

Einige, wenige High-End-Serien der letzten Jahre steuern dieser Entwicklung glücklicherweise entgegen.

Das Interesse, das diese Aneinanderreihung von Sensationen hervorruft, findet jedoch nur auf einer Oberfläche statt, es lässt uns selten zu den Filmen zurückkehren - vielleicht aus Gründen des Eskapismus - nicht jedoch, weil uns diese Werke tief berühren oder uns etwas über unser eigenes Wesen vermitteln.

Ich denke, dass beispielsweise auch das Phänomen und der Welterfolg von 50 Shades of Grey, eigentlich banaler Trivialliteratur, nach exakt diesem Prinzip funktioniert.

Shades of Grey funktioniert über das Kokettieren mit körperlichen Grenzüberschreitungen in einer gefühlsflachen Zeit - es gibt nichts Ursprüngliches mehr, keine tiefen Empfindungen.

Stattdessen braucht es stetig erhöhte äußerliche Reize, Schmerz als Bindeglied zwischen Anastasia Steele und Christian Grey - das erfolgreich verkaufte Spiel mit dem SM-Mythos ist nichts weiter als eine fleischgewordene Sehnsucht, ein Manifest der kollektiv unterdrückten Gefühlstiefe, die wiederum auf Angst beruht, was absolut in unseren Zeitgeist passt.

Die Banalität in diesem Fall besteht ebenfalls aus den mangelnden originellen Wendungen, es gibt kein existentielles Spannungsfeld, in dem sich die Hauptfigur Ana befindet.

Die der Angst der beiden Figuren Anastasia und Christian entgegengesetzte Kraft ist nur ein utopisches Sehnen, für das jedoch keine der Figuren wirklich kämpft.

Auch hier wird nur eine vermeintliche „Sensation“ auf die nächste gesetzt, wobei jedoch keine wirkliche Tiefe entstehen kann, ich bin gespannt, wie die Verfilmung funktionieren wird...


Als Künstler und Kreative müssen wir uns stets auf unsere Wurzeln - auf unsere Talente, Fähigkeiten und unser Handwerk besinnen, um auch längerfristig noch Filme und Entertainment machen zu können, das sein Publikum erreicht.

Dabei ist das Interesse an menschlichen Geschichten das wichtigste und immer gültige Prinzip von kreativem und künstlerischen Schaffen.



INTERESSE UND ERTRAG ©2014 Janosch Orlowsky. Nachdruck und / oder Verbreitung nur mit schriftlicher Genehmigung.

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APPENDIX:

Gestern Abend war ich bei der Buchvorstellung meiner lieben Freundin Ariadne von Schirach, die ihr neues Werk "
Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst" in Clärchens Ballhaus vorstellte.

Das Buch ist ein philosophisches Essay, das sich sehr intensiv mit Zeitgeist auseinandersetzt. Ari und ich haben im vergangenen Jahr das eine oder andere Mal philosophiert und dabei auch über Angst und Entgrenzung gesprochen. Mir selber fehlen die literarischen Qualitäten, vielleicht auch die schriftstellerische Hingabe, über die sie verfügt, weswegen ich ihr Werk als einen sehr spannenden Beitrag zum heutigen Leben in Leistungsgesellschaften empfehlen kann.

Buchcover © Tropen Verlag